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nachwort

Warum ein nochmaliger Versuch der Nachdichtung und Übersetzung der Gesammelten Gedichte aus dem Band „TRISTIA oder Zehn Himmel kostete uns diese Erde“ und aus dem Umkreis von „TRISTIA“ (1916-1925) von Ossip Mandelstam? 

 

„In der Sowjetnacht werde ich beten / Für das selige sinnlose Wort“, dichtete Ossip Mandelstam, 1920. Die schwarze Sonne im ersten Gedicht strahlt über die ganze Sammlung TRISTIA, schreibt Ralph Dutli in seiner Nachdichtung. Dieses tragische Oxymoron geht in der Morgenröte (eingeläutet mit dem „Schuss der Aurora“) als Sonne auf, „Und der schwerverliebten Mutter / Geht die schwarze Sonne auf.“ Die politischen und kulturellen Umwälzungen der Oktoberrevolution tragen apokalyptische Züge: Umwertung aller Werte findet statt, die Sonne wird in ihr Gegenteil verkehrt. Sogar das Intimste und Privateste eines Bürgers trägt schwarze Flecken wie ein härener Sack „ Mit schwarzer Liebe die Sonne ich befleckte!“ Und dann kommt die nie endende Sowjetnacht und der Untergang der Sonne „Der wilden Lust und somnambulen / Wird die Sonne schwarz nicht aufgehn.“ 

 

Wie „Phädra“, die schuldhaft Liebende im ersten Gedicht, die Verderbende, Selbstmörderin und Mörderin der Unschuldigen, so ist Russland, sagt Mandelstam. Russlands Schuld besteht in der Abwendung von der europäischen Kultur, der hellenistisch jüdisch-christlichen Kulturtradition, dem Erbe des Humanismus und Hinwendung und Faszination durch ein formloses Paradies (östliche Heilslehren der Nirwana, klassenlose Gesellschaft). Die Kulmination taumelt schlussendlich in den Totalitarismus.  

Der Tod ist allgegenwärtig. „In Theatern und auf leeren, öden Plätzen / Stirbt der Mensch, stirbt er allein.“

Petersburg wird zur Hauptstadt des Todes „Petropolis, dein Bruder stirbt.“ In jedem Atemzug nur tote Luft getrunken, / Und jede Stunde ist uns Sterbezeit.“  Schwarze Sonnengedichte der Endzeit, Gedichte des Exils, der Verbannung wie bei Ovid, prophetisch-poetische Vorahnungen und Zeichendeutungen an der Wand …   

    

Dann doch der Widerstand der Poesie-Erinnerungen. „Erinnern heißt – ganz allein in einem ausgetrockneten Flußbett zurückgehen müssen!“ Mandelstam in „Rauschen der Zeit“, 1925. Die Mnemosyne, die Muse der Erinnerung wird zu seinem Schutzengel, mit geschlossenen Augen und einem feierlich kleinen Kopf in den Nacken geworfen. (Man erzählt von Mandelstam, dass er bei seinem Gang, auch immer den Kopf in den Nacken warf, viele deuteten es als Arroganz, es war aber die „Arbeit des Erinnerns“). „Erinnern um jeden Preis! Das Vergessene überwinden – und wenn es den Tod bringen sollte.“ 

Die „Obertöne der Zeit“ zu hören, gleich Dante, und zu „kommentieren im Futurum“, das ist Mandelstam, das ist dieser Poet. Auch andere Musen (Schutzengel) stehen Ossip zur Seite, vorm Gesicht: Penelope, Antigone, Marina Zwetajewa, Anna Achmatowa, Kassandra, wie Eurydike Orpheus aus dem Hades erlöste, so rettete Nadeschda Mandelstam Ossips Gedichte. „Dies sind unsere Metamorphosen, unsere Mythen“, schrieb Josef Brodskj in der „Flucht aus Byzanz“.      

Diese Metamorphosen-Gedichte der TRISTIA, diese Mythen-Gedichte eines modernen Orpheus, versuche ich hier zu übertragen, zu übersetzen, nochmals nachzudichten.  

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Dann schwieg Mandelstam fünf Jahre lang, bis Herbst 1930. 

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Andreas Andrej Peters

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